Wir haben nichts gelernt. Gar nichts. Wieder mal.

Vor einem Jahr erlebten wir die Pandemie als Katastrophe, die urplötzlich über uns hereinbrach. Der Atem stand weltweit für kurze Zeit still. Dann dachten wir, man könnte daraus lernen. Nun ist vieles wie vorher, nur viel schlimmer. Ein Statement von Sabine Braun.

Im ersten Lockdown sprachen wir von Entschleunigung, nachhaltigen Lebensstilen und Resilienz. Kurz: Wir haben aus dem, wozu wir gezwungen worden waren, eine Tugend gemacht. Lieferketten waren zerbrochen, Flugreisen in ferne Länder unmöglich, Kurzarbeit und Homeoffice entschleunigten das Leben. Viele entdeckten ihre Umgebung, andere ihren Garten. Die Solidarität war groß. Junge Menschen kauften für Ältere ein, Gemeinschaft bekam wieder an Wert. Mit diesen Erfahrungen, da waren wir sicher, könnten wir nach der Pandemie Wirtschaft und Gesellschaft neu und besser aufbauen.

Wir verlieren an Empathie

Nun ist von all dem nicht mehr viel geblieben. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Doch das Leben geht weiter und die Corona-bedingten Beschränkungen gehören nun halt dazu. Die Wirtschaft boomt wie noch nie und der Deutsche Aktienindex hat Rekordhöhe erreicht. War da was? Ja, die Krise hat uns die Digitalisierung beschert. Vom ersten bis zum zweiten Lockdown hat auch der Letzte kapiert, wie man mit Teams und Zoom umgeht. So können wir nun weitermachen wie vorher, sogar besser und schneller denn je. Und so sind viele von uns zum Rädchen in einer hocheffizienten Maschine geworden. Ja, wir selbst sind zu Maschinen geworden. In Kacheln gepresst begegnen wir uns zu weltumspannenden Online-Meetings, dicht getaktet, oft acht Stunden täglich. Smalltalk und Reflexion bleiben auf der Strecke, die Empathie auch. Wir erleben uns alle nur noch digital und nicht mehr als Menschen mit Fleisch und Blut. Das macht etwas mit uns.

Wir werden Sklaven der Effizienz

Wir lassen uns in teils aberwitzige Abläufe pressen und treiben die Maschine damit auch selbst zu immer höheren Touren an. Warum? Weil wir quasi erpressbar sind. Täglich lesen und hören wir von den Verlierern der Pandemie: Freunde, die noch in Kurzarbeit sind und Angst um ihren Job haben, Pflegekräfte, die sich weiter unterbezahlt abrackern und um ihre Gesundheit bangen, Hotel- und Restaurantbesitzer, die vielleicht nie mehr aufsperren können. Wer zu den Gewinnern gehört, muss deshalb demütig und dankbar sein. Die Frage nach dem Sinn der Beschleunigung ist daher mental gar nicht zuzulassen. Und sie lässt sich auch nicht mehr in der Mittagspause mit anderen diskutieren. Niemand will sich nach der Krise etwas vorwerfen lassen können, während Führungskräfte sich nun zwingend als Krisenmanager beweisen müssen. Und so treiben wir gemeinsam im Strom der digital befeuerten Effizienz, während andere in den Abgrund schauen.

Warum die Beschleunigung?

Doch warum sind die Unternehmen nun derart getrieben und holen das Letzte aus ihrer Mannschaft heraus? Nicht allein, weil jedes möglichst rasch aus der Krise herausrudern will und dabei womöglich über das Ziel auch hinausschießt. Sondern, weil wir derzeit fraglos eine der größten Umwälzungen in der Wirtschaft erleben. Jetzt kommt es darauf an, sich für eine grüne und digitale Zukunft aufzustellen. Also brauchen wir in den Unternehmen Digitalisierungs-, Strategie- und Nachhaltigkeitsprojekte. Es wäre tatsächlich unklug, just jetzt ein Wasserstoffprojekt nicht vehement weiterzuverfolgen oder die Erarbeitung einer Klimastrategie auf Eis zu legen. Der Hinweis darauf, dass man dies schon längst hätte tun sollen, ist wohlfeil. Mit welcher Hektik, ja Panik gerade aber agiert wird, stimmt bedenklich. Denn wirklich nachhaltig im Sinne von beständig und tiefgreifend ist das meist nicht.

Was ist aus den Erkenntnissen geworden?

Sehr rasch haben wir nun vieles ausgeblendet, um den Turbo hochzudrehen. Der Fokus auf Resilienz, sprich Widerstandsfähigkeit, hat wieder abgenommen. Das könnte uns aber bald auf die Füße fallen:

  • Dass die Stimmung in der deutschen Industrie so gut ist wie selten zuvor, liegt an der steigenden Auslandsnachfrage, vor allem aus Asien und dort insbesondere aus China – ein Markt, von dem man sich angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen nicht noch abhängiger machen sollte als bisher.
  • Schon bisher war der Fachkräftemangel das größte Problem der deutschen Wirtschaft. Nun werden Menschen regelrecht verheizt. Wie aber wollen Unternehmen künftig attraktive Arbeitsplätze anbieten in agilen Strukturen und innovative Nachwuchskräfte anziehen, wenn sie jetzt die Strukturen dafür vernachlässigen.
  • Dass deutsche Unternehmen bei der Gleichstellung von Frauen ebenso wie beim Thema kulturelle Vielfalt hinterherhinken und die Pandemie just hier noch zusätzlich abträglich wirkte, wird im Krisenmodus allzu rasch beiseite gewischt.
  • Die Digitalisierung wird nun als willkommenes Handwerkszeug verwendet. Doch die substanzielle Beschäftigung mit den Implikationen für unsere gesellschaftliche Entwicklung fehlt. Entsprechende Rahmenbedingungen werden der EU überlassen.
  • Aufgrund der Pandemie blühen viele Geschäftsmodelle wie Versand- und Lieferdienste, die unser aller Ansprüche an gute Arbeit zuwiderlaufen. Geld verdienen hier meist nur die Investoren und risikobereite Aktionäre.
Wir brauchen mehr Solidarität

Aus Nachhaltigkeitssicht muss man eigentlich vieles begrüßen, was derzeit passiert, weil die EU ihr Sustainable Finance-Konzept konsequent verfolgt und die Konsument:innen immer wieder klare Signale setzen. Und man muss angesichts des rasch fortschreitenden Klimawandels auch hoffen, dass diese Impulse rasch greifen und in neue, auch großindustrielle Lösungen umgesetzt werden. Doch man muss auch sehr entschieden davor warnen, Nachhaltigkeit nur als neuen Wirtschafts-Turbo zu verstehen. Denn unsere Gesellschaft braucht für eine nachhaltige Entwicklung mehr sozialen Ausgleich – in und nach der Pandemie. Dass der Pflegetarif nicht zustande kam, ist eine Bankrotterklärung. Dass die sozialen Dienste von der Corona-Krise besonders betroffen sind, ist blamabel. Und dass jene, die schon wenig haben, aufgrund steigender Mietpreise noch mehr ausgegrenzt werden, ist traurig. Vom Elend vieler Kunstschaffenden und dem Niedergang des kulturellen Lebens, das uns Freude beschert und Mensch sein lässt, ganz zu schweigen. Und gar nicht fragen mag man auch nach den vielen Beschäftigten, die einsam am Küchentisch oder mit Homeschooling mehr geleistet haben als jemals zuvor und nervlich am Ende sind.

Wenn wir nicht in der Lage sind, mit Nachhaltigkeit auch mehr Solidarität, Kultur und Empathie zu verknüpfen, wird eine nachhaltige Entwicklung scheitern – egal wie wir wirtschaftlich durch die Krise gekommen sind.


Foto: Toroslarinsesi | Shutterstock

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