Zur Halbjahresbilanz der Bundesregierung in Sachen Nachhaltigkeit – auch vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine – sprachen wir mit Dr. Werner Schnappauf, Bundesminister a. D. und Vorsitzender des Rats für Nachhaltige Entwicklung der Bundesregierung.
Seit einem halben Jahr ist die neue Bundesregierung im Amt. Lassen sich mit den Vorhaben im Koalitionsvertrag und im „Osterpaket“ des Bundeswirtschaftsministers die wesentlichen Nachhaltigkeitsziele erreichen?
Der Koalitionsvertrag bietet insgesamt eine gute Grundlage, um wesentliche Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Der Koalitionsvertrag greift Nachhaltigkeit schon im Titel als Ziel des Regierungshandelns auf, das begrüßen wir natürlich. In einzelnen Bereichen wie in der Landwirtschafts- und Ernährungspolitik ist zwar noch mehr Ehrgeiz nötig, aber insgesamt handelt es sich um ein gutes Drehbuch mit konkreten Schritten für die nötige Transformation hin zu Klimaneutralität und einer nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsweise. Was jetzt notwendig ist, ist das Tun, ist der Aufbruch in ein „Jahrzehnt des Handelns und der Umsetzung“. Besonders wichtig ist dem Rat dabei auch, dass die Perspektive der jungen Generation im Zentrum der Zukunftsdebatten steht. Das Osterpaket ist ein erster Umsetzungsschritt, weitere müssen folgen.
Wie, schätzen Sie, wird sich der Krieg in der Ukraine auf das Erreichen der Ziele auswirken?

Mit dem russischen Angriffskrieg rücken Klimaschutz und Energiewende auch ins Zentrum der Sicherheitspolitik. Der Krieg gefährdet weltweit die Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele, der SDGs, insbesondere jener Ziele zur Ernährungssicherung, zur Armutsbekämpfung und zur Energieversorgung. Die zentrale Antwort auf die Folgen des Krieges muss sein, den Turbo anzuwerfen und die ohnehin schon ehrgeizigen Umsetzungspläne nochmals zu beschleunigen. Dieser Umbau muss so schnell wie irgend möglich geschehen, schneller und umfassender, als wir es uns vor dem 24. Februar ausgemalt haben.
Angesichts knapper werdender Kassen und neuer Staatsverschuldung: Welche Empfehlung(en) haben Sie an die Bundesregierung, wie sie Ziele vielleicht priorisieren kann?
Die SDGs und die Ziele der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie sind alle wichtig und intensiv miteinander verwoben. Dennoch müssen wir gerade in der aktuellen Ausnahmesituation den Mut haben, die ganz wesentlichen — gegenüber anderen wichtigen – Fragen in den Vordergrund zu rücken. Dazu zählt aus Sicht des Nachhaltigkeitsrats erstens insbesondere das Thema Klimaneutralität. Im letzten Jahr hat der Nachhaltigkeitsrat zusammen mit der Leopoldina praktische Wege zur Klimaneutralität aufgezeigt. Die Klimakrise abzuwenden, ist ganz sicher die große Aufgabe unserer Zeit. Aber zweitens kommt auch dem Schutz der Biodiversität, dieser Zwillingskrise, hohe Bedeutung zu. Drittens ragt für mich aktuell das Thema globale Gesundheitsvorsorge heraus. Insgesamt müssen wir verstärkt über den nationalen Tellerrand hinausdenken und das Thema soziale Verantwortung nicht nur national, sondern viel stärker auch global betrachten. Um solche Priorisierungen erfolgreich umzusetzen und alle dabei mitzunehmen, brauchen wir ein neues Wir-Gefühl, ein neues Miteinander in unserer Gesellschaft.
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