Über die aktuellen Herausforderungen der Agenda 2030 sprachen wir mit Elise Zerrath, SDG-Expertin im Sustainable Development and Gender Unit bei der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) in Genf.
Welche Frage zu den SDGs wird Ihnen Ihrer Meinung nach viel zu selten gestellt, verlangt aber viel mehr Aufmerksamkeit?
„Wie schaffen wir eine nachhaltige Transformation tatsächlich?“ Es ist eine Frage, die ich viel zu selten höre, die aber dem Kern der SDGs entspricht. Also: Wie können wir unsere Lebensweise, unser Konsumverhalten, unsere Art des Wirtschaftens grundlegend verändern? Die richtigen Wörter sind bereits in aller Munde: Transformation, Wandel, Kehrtwende. Doch nicht immer sind sie Ausdruck von Mut, Veränderungsbereitschaft, Erfindergeist – von all dem, was es braucht, um tatsächliche Veränderung zu bewirken. Es sind sicherlich die schwierigsten Hausaufgaben, die uns die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung aufgetragen hat: Nachhaltigkeit nicht nur rhetorisch in unseren bestehenden Strukturen zu fordern, sondern die Strukturen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Wir brauchen mehr dieser Fragen, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern tiefer ansetzen – die von dem Willen geleitet sind, echten nachhaltigen Wandel voranzutreiben.
Sie arbeiten an den Themen Sustainable Development und Gender bei der UNECE: Inwiefern hängen diese Themen zusammen?
Gleichberechtigung ist der „Game Changer“ schlechthin für nachhaltige Entwicklung. Die Stärkung von Frauen ist ein enormer Beschleuniger bei der Umsetzung aller 17 Nachhaltigkeitsziele – oder anders gesagt: Frauen sind ein entscheidender Teil der Lösung.

Ein Nachhaltigkeitsziel, SDG 5, widmet sich ganz der Gleichberechtigung der Geschlechter, und ist entscheidend, um eine Reihe anderer SDGs zu erreichen. Leider klaffen Vision und Realität noch immer weit auseinander. Kein Land dieser Welt hat bisher die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht – auch vor Deutschland liegt noch ein weiter Weg. Die Entwicklung von Frauen – und damit die Entwicklung der gesamten Gesellschaft – wird weiterhin ausgebremst von unzureichender Chancengleichheit, erschwertem Zugang zu Führungspositionen, sexualisierter Gewalt, ungleicher Verteilung von Pflege- und Hausarbeit, geringerer Entlohnung – die Liste lässt sich fortsetzen. Und eins ist dabei sicher: Geduld allein bringt uns hier nicht weiter.
Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele sollen bis 2030 erreicht sein. Das ist in zehn Jahren. Für wie realistisch halten Sie diesen Zielhorizont?
Eine große Hürde ist bereits jetzt bekannt: Wir wissen in vielen Fällen schlicht nicht, wo genau wir bei der Umsetzung der 17 SDGs stehen. Uns fehlt die Datengrundlage, um Fortschritte zu messen. In vielen UN- Mitgliedsstaaten ist die Erhebung von qualitativ hochwertigen und nach Geschlecht, Herkunft oder Alter auf- geschlüsselten Daten eine echte Herausforderung. Ein Beispiel: In der UNECE-Region, die 56 Staaten in Nordamerika, Europa und Zentralasien umfasst, wird derzeit erwartet, dass 23 der 169 SDG-Unterziele bis 2030 erreicht werden. Allerdings lässt sich bei 80 dieser Unterziele schlichtweg keine Aussage treffen, da die Datengrundlage fehlt. Ein wichtiges Thema wird also bleiben, die statistischen Kapazitäten von Mitgliedsstaaten zu stärken.
Welche SDGs und deren Themen sind am aussichtsreichsten, welche die herausforderndsten – und warum?
Die Covid-19-Pandemie hat das Bild stark verzerrt: Bei einigen Nachhaltigkeitszielen wurden über die letzten Jahre zaghafte Fortschritte erzielt – viele Teilerfolge hat die Pandemie allerdings zunichte gemacht. In einigen Bereichen sind die Rückschritte noch gar nicht bezifferbar: die Zunahme von häuslicher Gewalt, die Verschärfung sozialer Ungleichheiten, verpasste Bildungschancen, verlorene Arbeitsplätze. Gleichzeitig hat das Virus uns gezwungen quasi über Nacht das gewohnte Leben neu zu denken. Damit wurde auch deutlich, dass eine Transformation unserer Lebensweise möglich ist. In der Krise liegt auch eine Chance – sie schafft Raum für neue Impulse: Wie können wir Konjunkturprogramme an den SDGs ausrichten, getreu dem Motto „Building back better“? Wie können wir die Pandemie überwinden und dabei Klimaschutz fördern, Ungleichheiten reduzieren und Impulse für ein nachhaltigeres Wirtschaften geben? Wir befinden uns inmitten dieser Entscheidungsphase für eine nachhaltigere Zukunft und haben jetzt die Chance, die Umsetzung der SDGs realistischer werden zu lassen.
„Rainbow Washing“ & „Cherry Picking“: Unternehmen werden kritisiert, die SDGs primär kommunikativ und weniger transformativ einzusetzen. Für wie legitim halten Sie diese Kritik?
Wir brauchen Unternehmen, die sich zu den Nachhaltigkeitszielen bekennen – gerne auch öffentlichkeitswirksam. Wir brauchen aber auch Institutionen und kritische Konsumenten, die die Überprüfbarkeit der Nachhaltigkeit einfordern. Die SDGs drücken eine Vision von einer gerechteren, nachhaltigeren Welt aus – und machen sich damit sehr gut als rhetorisches Stilmittel. Aber mit ihnen kommt der Auftrag zur echten Veränderung. Wer sich zu den SDGs bekennt, muss gewillt sein, sich diesem Auftrag anzunehmen.
Was können Unternehmen tun, um einen glaubwürdigen und tatsächlichen Beitrag zur Umsetzung der SDGs zu leisten?
Sich genau die Anfangsfrage stellen: Wie schaffen wir als Unternehmen eine tatsächliche nachhaltige Transformation – und sich diese Frage mit dem Mut stellen, den es braucht, um Veränderungen anzustoßen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Unternehmen, sondern auch für alle Politikebenen und jeden Einzelnen von uns. Und vielleicht ist letzteres ein guter Startpunkt: Inwieweit schaffen wir es selbst, in unserem eigenen Leben, einen glaubwürdigen und tatsächlichen Beitrag zur Umsetzung der SDGs zu leisten? Haben wir selbst den Mut zur Veränderung?
Das Interview ist Teil des alle zwei Monate erscheinenden akzente Politikmonitors. Darin verfolgen wir die Diskussionen und Veranstaltungen rund um Nachhaltigkeit in Brüssel und Berlin, greifen Impulse auf und geben Einblicke. Die neuesten Ausgaben des Politikmonitors stehen Ihnen hier zum Download bereit.
Titelbild: Wilhelm Gunkel | Unsplash