Zur Rolle der EU als Treiber für eine globale nachhaltige Entwicklung sprachen wir mit Delara Burkhardt (SPD), Mitglied im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit des Europäischen Parlaments.
Frau Burkhardt, für wie groß halten Sie die Chance, dass die EU zum globalen Vorreiter für Nachhaltigkeit wird?
Der EU kommt schon deshalb eine große Verantwortung zu, weil sie die reichste Region der Welt ist. Wenn wir zeigen können, dass die sozialökologische Transformation unserer Wirtschaft nachhaltig ist und Wohlstand für alle bereithält, dann wird das auf jeden Fall einen globalen Nachahmereffekt erzeugen. Der Green Deal der Europäischen Union hat diese Vorbildfunktion, u. a. hinsichtlich der Pariser Klimaziele, denn er wurde 2019 ja kurz vor einer UN-Klimakonferenz vorgestellt. Die Rolle der EU in der internationalen Klimadiplomatie ist ganz zentral. Allerdings ist es eine Sache, sich zu etwas zu verpflichten. Eine wirkungsvolle Politik zu machen, die diese Verpflichtungen auch umsetzt, ist eine andere. Wir müssen unseren eigenen globalen Fußabdruck reduzieren und andere Staaten in der Welt, die nicht die Mittel haben wie wir, dabei unterstützen, auch klimaneutral zu werden. Inzwischen haben sich andere Staaten schon dem „race to the top“ angeschlossen.
Angesichts des aktuellen Streits um die EU-Taxonomie – die Frage, ob die Atomenergie oder Erdgas als nachhaltig gelten können – und des Kohleausstiegs (siehe Polen, Tschechien): Kann Nachhaltigkeit die EU auch spalten?
Die Zurückhaltung hat meines Erachtens eher Symbolcharakter, etwa wenn es um das Weiterlaufen des Braunkohleabbaus in Polen geht. Hinter dem Zögern und Zaudern einiger Mitgliedstaaten steht die Angst vor der ökonomischen Herausforderung. Der nötige Wandel trifft nun einmal nicht in allen Mitgliedstaaten auf die gleichen Voraussetzungen. Jetzt muss man sich Gedanken darüber machen, wie man den Wandel gerecht gestalten kann. Der Just Transition Fund adressiert diese Thematik. Kontroversen im Rahmen der Taxonomie-Diskussion — also, was verstehen wir eigentlich als nachhaltige Investitionen — zeigen, dass es unterschiedliche nationale Interessen gibt. Aber ich glaube, dass es wichtig ist, diese Interessen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern dass wir eine tragfähige Lösung für alle bekommen.
Deutschland und Frankreich versuchen zurzeit, die Taxonomie zu ihren Gunsten zu verändern, indem Erdgas bzw. Atomenergie als nachhaltige Technologien gelten sollen. Wie beurteilen Sie das?

Die Frage des Energiemixes ist eine nationalstaatliche Entscheidung. Da hat sich Deutschland eben für einen anderen Weg entschieden als andere: Ausstieg aus Atom- und Kohlekraft und Erdgas als Brückentechnologie. Meines Erachtens dehnen wir die Diskussion um die Taxonomie eigentlich zu sehr aus. Im Kern geht es in der Taxonomie-Diskussion darum, was wir als nachhaltig klassifizieren. Selbst wenn Erdgas eine Brückentechnologie sein kann, sollten wir uns auf europäischer Ebene darauf einigen können, dass es dennoch keine nachhaltige Investition ist. Das gleiche gilt für die Einstellung Frankreichs zur Atomenergie. Auf europäischer Ebene müssen wir festlegen, was im Sinne der Nachhaltigkeit kluge Investitionen sind. Als Volkswirtin gesprochen, ist es eine ganz rationale ökonomische Tatsache, dass die Atomenergie keine kluge Investition ist. Ich verstehe die Motivation dieser Mitgliedstaaten, teile sie aber nicht.
Im Juli soll unter dem Stichwort „Fit for 55“ ein Bündel an Gesetzesvorschlägen vorgelegt werden. Wie kann die EU sicherstellen, dass sie dafür die Zustimmung aller Mitgliedsländer bekommt? Bekommen wir beim Klimaschutz vielleicht eine EU der zwei Geschwindigkeiten?
Zunächst einmal muss man gesetzlich festhalten, dass die Ziele im europäischen Klimagesetz für die Jahre 2030 und 2050 nicht mehr in Frage gestellt werden. Viele Staaten wollten sich anfangs nicht auf das Ziel der Klimaneutralität verständigen. Jetzt geht es darum, wie die einzelnen Mitgliedsländer dieses Ziel erreichen wollen. Mit dem „Fit for 55“-Package kommt viel Gesetzgebung neu auf den Tisch. Dabei geht es auch um die Frage der Lastenverteilung, also darum, wer wie viel zur Emissionsreduktion beiträgt. Hier kommen wieder der Just Transition Fonds oder die Strukturförderung ins Spiel. Am Ende werden die Mitgliedstaaten unterschiedlich viel beitragen, aber alle definieren das Ziel als ihre gemeinsame Aufgabe. Wir haben demzufolge nicht zwei Geschwindigkeiten, sondern unterschiedliche Beiträge. Zudem hat das europäische Klimagesetz Wegmarken vorgesehen, die erste schon 2023, an denen wir untersuchen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. So kann das Klimagesetz sogar zu einem Motor der europäischen Integration werden.
Die Gefahr, dass wir künftig nur noch mit Stahl aus China bauen, ist doch aber durchaus real. Um solche Branchen zu schützen, plant die EU ein Gesetz für einen CO2-Grenzausgleich. Sowohl die USA als auch China sehen diese Gedankenspiele sehr kritisch.
Der geplante CO2-Grenzausgleich will das Verursacherprinzip in der Industrie stärker betonen. Simpel gesprochen: Wer die Umwelt belastet, muss auch dafür zahlen. Unternehmen, die Produkte aus Nicht-EU-Ländern, in denen es keinen CO2-Preis gibt, in den europäischen Markt bringen möchten, müssten in diesem Fall einen CO2-Aufpreis zahlen. Das ist ein Abbild der real entstehenden Kosten und kein Wettbewerbsnachteil. Dafür muss sich natürlich im Emissionshandel etwas verändern, es darf dann keine Freizertifikate mehr geben, denn das wäre mit dem internationalen Handelsrecht nicht mehr vereinbar. CO2 zu bepreisen, wird damit eine Marktzugangsvoraussetzung. Den Widerstand aus den USA und China kann ich nicht ganz nachvollziehen. Es ist ja kein Wirtschaftsprotektionismus, wenn wir sagen, dass für externe Unternehmen die gleichen Bedingungen gelten wie für europäische.
Zu einem wichtigen sozialen Nachhaltigkeitsaspekt: Wie kann die EU mit dem Thema Menschenrechte in China umgehen? Kann sie sich einen entschiedeneren Kurs wirtschaftlich überhaupt leisten?
Wenn wir ein europäisches Lieferkettengesetz haben, wird es auch andere Staaten dazu verpflichten, Mindeststandards einzuhalten. Es wird ja oft behauptet, Unternehmen müssten für etwas haften, auf das sie keinen Einfluss haben. De facto geht es doch darum, Transparenz in Lieferketten herzustellen. Ziel ist es, nicht erst aktiv zu werden, wenn die Menschenrechtsverletzung bereits stattgefunden hat, sondern präventiv zu handeln. Es gibt nun einmal Menschenrechtsstandards, zu denen sich die meisten Länder der Welt bekannt haben, die aber in der Praxis der Lieferketten nicht immer eingehalten werden. Die Frage der Transparenz ist eine eher niederschwellige Form der Auseinandersetzung mit der Thematik. Es gibt bereits zahlreiche Unternehmen, die sich die Mühe gemacht haben, Menschenrechtsstandards einzuhalten. Diese Unternehmen haben zurzeit real einen Wettbewerbsnachteil. Aus diesem Grund ist das EU-China-Investitionsabkommen auch problematisch, weil dort ja bereits Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Das kann nicht mit einem Investitionsabkommen belohnt werden.
Das Interview ist Teil des alle zwei Monate erscheinenden akzente Politikmonitors. Darin verfolgen wir die Diskussionen und Veranstaltungen rund um Nachhaltigkeit in Brüssel und Berlin, greifen Impulse auf und geben Einblicke. Die neuesten Ausgaben des Politikmonitors stehen Ihnen hier zum Download bereit.
Titelbild: Karsten Würth | Unsplash