Druck auf Menschenrechte made in Germany

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller forderte seit Jahren, „Made in Germany“ solle nicht nur für beste Qualität, sondern auch für die Wahrung der Menschenrechte stehen. Nun liegt endlich ein Regierungsentwurf für ein deutsches Lieferkettengesetz vor. Er wirkt zwar wie ein fauler Kompromiss, gibt aber dennoch den Start in die richtige Richtung. Die EU will bald nachlegen und ein schärferes Gesetz auf den Weg bringen.

Die verantwortungsbewusste und nachhaltigkeitsorientierte Gestaltung der Lieferkette ist kein Exotenthema mehr. Im vergangenen Jahr ließ sich gut beobachten, wie sich die Grenzen des Nachhaltigkeitsmanagements in Unternehmen zunehmend in die Lieferketten hinein verschieben. Denn es wächst die Erkenntnis, dass die mit der Wertschöpfung verbundenen ökologischen und sozialen Herausforderungen nur durch eine Zusammenarbeit entlang der Lieferkette gelöst werden können.

Mangel an Menschenrechten ist eklatant

Laut einer aktuellen Studie der Universität Chicago1, arbeiten noch immer rund 1,5 Millionen Kinder unter katastrophalen Bedingungen auf Kakaoplantagen in Westafrika, wo rund 70 Prozent des in Deutschland verarbeiteten Kakaos angebaut werden. Deutsche Verbraucher:innen müssen also davon ausgehen, dass in ihrer Schokoladentafel mit hoher Wahrscheinlichkeit ausbeuterische Kinderarbeit steckt. Schokoladenhersteller wie Mars und Nestlé hatten bereits vor 20 Jahren im sogenannten Harkin-Engel-Protokoll versprochen, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit bis 2005 zu beenden. Und zuletzt hatte die Industrie eine Reduzierung der Kinderarbeit um 70 Prozent bis 2020 in Aussicht gestellt.

Daraus geworden ist aber nichts, wie die genannte Studie belegt, und Kinderarbeit hat in den letzten zehn Jahren nicht abgenommen. Im Gegenteil: Der Anteil an arbeitenden Kinder in landwirtschaftlichen Haushalten (z. B. Kakaoproduktion) stieg signifikant um 16 Prozent. So leben weltweit noch immer rund 25 Millionen Menschen in Zwangsarbeit und mehr als 150 Millionen Kinder zwischen fünf und siebzehn Jahren arbeiten, anstatt in die Schule zu gehen. Das Hauptproblem liegt in den Vorstufen der Lieferketten, die meist außerhalb der Landesgrenzen angesiedelt sind. Doch Formen von Zwangsarbeit kommen auch in Deutschland vor – von schlecht bezahlten Saisonkräften in der Landwirtschaft über Zeitarbeiter:innen in der Industrie bis hin zu Lohnarbeiter:innen von Sub-Unternehmen in der Fleischindustrie.

Gesellschaftlicher Wertewandel fordert Umdenken

Dabei zeigt sich: Produktherkunft und Verarbeitung werden als Einflussfaktor für die Kaufentscheidung immer relevanter. Auch die Nachfrage an nachhaltigen Produkten in Deutschland steigt. Umweltbewegungen wie „Fridays for Future“ verstärken das veränderte Konsumverhalten, wirken sie doch tief in das gesellschaftliche Bewusstsein hinein. So wird Nachhaltigkeit für 70 Prozent der Verbraucher:innen in den kommenden fünf Jahren an Bedeutung zunehmen. Und genauso viele Verbraucher sind bereit, für nachhaltig produzierte Waren mehr zu bezahlen2.

Nach einer Umfrage des Logistikdienstleisters Hermes3 sind sich auch die Verantwortlichen in den Unternehmen dieses Wandels bewusst: Gut zwei Drittel schreiben Nachhaltigkeitsaspekten im eigenen Supply-Chain-Management (SCM) eine hohe Bedeutung zu. 71 Prozent glauben zudem, dass diese Bedeutung innerhalb der letzten zwei Jahre zugenommen hat. So spüren 86 Prozent der befragten Unternehmen großen Druck, eine nachhaltige Lieferkette aufzubauen. Doch nur sieben Prozent der Unternehmen kennen bereits ihre komplette Lieferkette4.

Das Prinzip Freiwilligkeit hat versagt

Um die Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte der Vereinten Nationen in Deutschland umzusetzen, hatte die Bundesregierung mit dem Nationalen Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) viele Jahre auf freiwilliges Engagement gesetzt. Als es dann angesichts einer im Koalitionsvertrag vorgesehenen gesetzlichen Regelung zum Schwur kam, ergab die Befragung der betroffenen Unternehmen, dass nur 17 Prozent die Anforderungen des NAP erfüllten5.

Zugleich stieg in der Bevölkerung das Unverständnis für die mangelnde Berücksichtigung von Menschenrechten: 75 Prozent meinten, es brauche nun eine gesetzliche Regelung6. Und so wurde die Bundesregierung quasi halbherzig aktiv. Nach langen Verhandlungen und öffentlichen Diskursen hat das Bundeskabinett am 3. März 2021 einen Entwurf zum deutschen Sorgfaltspflichtengesetz beschlossen. Viele waren enttäuscht, denn er wirkt nach dem heftigen Gerangel zwischen Arbeits- und Entwicklungsministerium auf der einen und dem Wirtschaftsministerium auf der anderen Seite wie ein fauler Kompromiss – und ist doch besser als nichts.

Das Lieferkettengesetz musste kommen

Das Gesetz gilt ab dem 1. Januar 2023 für Unternehmen mit mehr als 3.000 Mitarbeitenden (das betrifft rund 650 Unternehmen in Deutschland) und ab 1. Januar 2024 für Unternehmen mit mehr als 1.000 Beschäftigten (das betrifft knapp 2.890 Unternehmen in Deutschland), die ihre Hauptverwaltung, ihre Hauptniederlassung, ihren Verwaltungssitz oder ihren satzungsmäßigen Sitz im Inland haben. Sie sind dann gesetzlich verpflichtet, Menschenrechte und Umweltvorgaben in der Lieferkette einzuhalten, wobei es zwei Arten von Sorgfaltspflichten gibt:

  • die unmittelbaren Sorgfaltspflichten für das eigene Unternehmen und direkte Zulieferer
  • die mittelbaren Sorgfaltspflichten für weitere Lieferantenstufen bei substantiierter Kenntnis von Verstößen

Verstöße werden durch Bußgelder geahndet, die bis zu drei Prozent des Vorjahresumsatzes ausmachen können. Außerdem kann es zum Ausschluss bei öffentlichen Ausschreibungen von bis zu drei Jahren kommen. Es gibt weiterhin den zivilrechtlichen Haftungsweg nach internationalem Privatrecht, jedoch mit erweiterter Prozessstandschaft. Das heißt: Betroffenen soll die Möglichkeit gegeben werden, etwaige zivilrechtliche Ansprüche (z. B. bei Körperverletzungen oder im Todesfall) mit Hilfe von Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen in Deutschland geltend zu machen. Für die Kontrolle der Einhaltung der Sorgfaltspflichten ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zuständig.

Wichtige Orientierung trotz geringer Ambition

Auch wenn das Gesetz unter den Erwartungen von Nichtregierungsorganisationen und den Plädoyers der Ministerien für Arbeit sowie Entwicklung geblieben ist sowie der Kreis der betroffenen Unternehmen zunächst sehr überschaubar bleibt, geben seine Regelungen doch detailliert vor, wie ein nachhaltiges Lieferkettenmanagement auszusehen hat. Und damit gibt es wichtige Orientierung. Denn auch wenn viele Unternehmen den Druck aus dem Gesetz aktuell noch gut abwehren können, kümmern sich nun doch immer mehr darum, ihre Lieferkette zu überprüfen und neu bzw. verantwortungsbewusst aufzustellen. Dafür formuliert das Gesetz klare Anforderungen, wie die Einführung eines Risikomanagements, die Erstellung einer Grundsatzerklärung und Präventionsmaßnahmen, Ergreifung von Abhilfemaßnahmen, die Einrichtung von Beschwerdeverfahren und eine detaillierte Dokumentations- und Berichtspflicht.

Anspruch und Ausblick

Bis „Made In Germany“ tatsächlich auch für transparente und nachhaltige Beschaffung steht, wird es noch dauern. Deutsche Unternehmen, auch kleine und mittelständische, sollten jetzt aber nicht „aufatmen“ und das Thema vertagen, sondern sich rasch auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen. Denn:

  • Im internationalen Kontext ist eher mit strengeren Regeln zu rechnen, wie die aktuell diskutierten EU-Regelungen, die schärfer ausfallen werden als das deutsche Gesetz und noch dieses Jahr kommen sollen.
  • Auch wenn ein Unternehmen vom Lieferkettengesetz selbst nicht betroffen ist, wird es als Lieferant die Vorgaben von Kunden zu erfüllen haben.
  • Obwohl sich keine Lieferkette von heute auf morgen ändern lässt, kann man doch viele kleine Schritte in die richtige Richtung machen.
  • Jedes Unternehmen sollte sich heute grundlegend mit seiner Lieferkette beschäftigen und Lösungen dafür finden, eine gute und resiliente Lieferantenbasis aufzubauen.

Anmerkungen:

1 University of Chicago: Assessing Progress in Reducing Child Labor in Cocoa Production in Cocoa Growing Areas of Côte d’Ivoire and Ghana, October 2020.
2 ey-nachhaltiger-konsum-2020.pdf
3 Hermes-Barometer-12-Nachhaltigkei-im-SCM.pdf (hermes-supply-chain-blog.com)
4 Studie zu Nachhaltigkeit in Lieferketten zeigt größeren Druck auf Unternehmen (dnvgl.de)
5 nap-monitoring-ergebnisindikation-data.pdf (auswaertiges-amt.de)
6 infratest-dimap_Umfrage-Lieferkettengesetz.pdf


Den Artikel ist Teil der 36. Ausgabe des CSR MAGAZIN vom 19. April 2021. Die Gesamtausgabe ist hier abrufbar.


Foto: Tyler Casey | Unsplash

Die Nachhaltigkeit ist im Mainstream angekommen

  • Vorschlag für eine “Corporate Sustainability Reporting Directive” (CSRD) stellt Nachhaltigkeit auf eine Stufe mit Finanzinformationen
  • Weitaus mehr betroffene Unternehmen und höhere Transparenztiefe
  • Einführung von Berichtsstandards sehr wahrscheinlich

Die EU-Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion (FISMA) veröffentlichte am 21. April 2021 den Vorschlag für ein Update der nichtfinanziellen Berichterstattungsrichtlinie (Non Financial Reporting Directive, NFRD). Da die erste Version als etwas zahnlos galt und ihr Adressatenkreis zu klein war, um echten Impact zu erzielen, wird die Richtlinie nun ausgeweitet. Die 2020 durchgeführte öffentliche Konsultation ließ schon eine recht konkrete Vorstellung zu, in welche Richtung die Entwicklung laufen könnte. Die nun vorgestellten Neuerungen überraschen deshalb nicht wirklich. Doch es gibt ein paar Ausnahmen.

Vorgeschlagene Änderungen im Überblick

Als gesetzt galt die Ausweitung der betroffenen Unternehmen. War in der NFRD noch die Rede von Organisationen im „öffentlichem Interesse“, wird jetzt die Wirtschaft im Ganzen als relevant angesehen. Berichtspflichtig werden bereits Unternehmen ab einer Größe von 250 Mitarbeitern, unabhängig davon, ob deren Anteile an einem öffentlichen Markt gehandelt werden. Bei den kapitalmarktorientierten Unternehmen fällt die Größenschwelle gänzlich weg – mit Ausnahme von „Mikrounternehmen“. Damit müssen in Deutschland ab 2024 mehr als 16.000 Unternehmen zu Nachhaltigkeit berichten.

Die Unternehmensführung und -aufsicht soll mehr Verantwortung für Nachhaltigkeitsthemen übernehmen. Das zeigt sich durch die Fixierung der Nachhaltigkeitsberichterstattung im Lagebericht und eine vorgeschriebene externe Prüfung, die allerdings zunächst noch mit begrenzter Sicherheit (Limited Assurance) erfolgen kann. Das Ziel, die bisherige Dualität von Finanz- und Nachhaltigkeitskennzahlen aufzulösen, drückt sich deutlich in der neuen Terminologie aus: Die „nichtfinanzielle Berichterstattung“ wird durch den Begriff der „Nachhaltigkeitsberichterstattung“ ersetzt.

Die zu berichtenden Inhalte sollen konkretisiert, ausgeweitet und in Einklang mit der parallel laufenden Entwicklung der Sustainable Finance-Gesetzgebung gebracht werden. Darzustellen sind das Geschäftsmodell und die Geschäftsstrategie in Bezug auf Nachhaltigkeitsrisiken und -chancen, die Kompatibilität mit einem 1,5 Grad-Szenario, Ziele und deren Fortschritt und auch die „Principal Adverse Impacts“, auf die die Finanzmarktteilnehmer für Angaben nach der Offenlegungsverordnung angewiesen sind. Neben retrospektiven Angaben werden ausdrücklich zukunftsgerichtete Angaben gefordert. Auch die Empfehlungen der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD) wurden an mehreren Stellen fest verankert.

Spielregeln für alle Marktteilnehmer

Während die EU nun ein umfangreiches Gesetzespaket mit dem Ziel Nachhaltigen Wirtschaftens schrittweise umsetzt, favorisieren die USA die von der IFRS Foundation (International Financial Reporting Standards) angekündigten Berichtsstandards als Lösung. Diese wären zwar international, können aber nur einen kleinen Teil der für eine umfassende Steuerung notwendigen Daten bereitstellen und richten sich nur an Unternehmen, die sich über den Kapitalmarkt finanzieren – in Europa, ja speziell in Deutschland ist dies eine Minderheit. Deshalb soll das gerade entstehende, sowohl am Geschäftserfolg wie auch den externen Auswirkungen orientierte, Gesetzespaket der EU alle Marktteilnehmer zu einer gesamtgesellschaftlichen nachhaltigen Entwicklung verpflichten. Es ist die Antwort auf drei verlorene Jahrzehnte der freiwilligen Selbstverpflichtungen, die nichts gebracht haben. So hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass wir eine feste Rahmenordnung mit klaren Spielregeln für alle Marktteilnehmer brauchen, wenn nachhaltiges Handeln sich lohnen soll.

EU will eigene Berichtsstandards als Klammer

Besonders hervorzuheben ist daher das klare Bekenntnis der EU zu eigenen Berichtsstandards, die mehr Klarheit und Vergleichbarkeit schaffen sollen. Die Eindringlichkeit, mit der die FISMA diese im Text verankert hat, deutet auf eine klare Empfehlung zur Einführung hin. Dass die Umsetzung jetzt noch gekippt wird und die entsprechenden Stellen aus dem Gesetzesvorschlag entfernt werden, ist unwahrscheinlich. Sie sind der letzte Baustein, der die Lücke zwischen Nachhaltigkeitsberichterstattungsrichtlinie, Taxonomie und Offenlegungsverordnung schließt.

Verstöße sind kein Kavaliersdelikt

Ein interessantes Detail findet sich im Artikel „Strafen“. Waren solche für einen Verstoß gegen die NFRD bisher den Mitgliedsstaaten überlassen, legt der Vorschlag zur CSRD nun Mindeststrafarten und Prozessvorgaben bei der Strafermittlung fest. Neben monetären Strafen wird auch eine Veröffentlichung des gegen das Gesetz verstoßenden Unternehmens sowie die Art des Verstoßes gefordert. Zwar handelt es sich um einen Verstoß gegen formale Kriterien und nicht um Inhalte. Intransparenz wird angeprangert, nicht ein ökologisches oder soziales Fehlverhalten. Allerdings kann aus dem Fehlen bestimmter Daten durchaus eine Ableitung getroffen werden, wo bei einer Analyse genauer hinzusehen ist.


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Reges Interesse am Webtalk zum Lieferkettengesetz

Deutschland macht es vor, die Europäische Union wird nachrücken: Am 03. März 2021 hat das Bundeskabinett den Entwurf zum Gesetz über die unternehmerische Sorgfaltsplicht entlang der Lieferkette beschlossen. Doch was bedeutet das sogenannte Lieferkettengesetz nun konkret?

Der akzente Webtalk vom 23. Februar 2021 gab hierzu wertvolle Einblicke und lud drei Expert:innen ein, über die aktuellen Entwicklungen zu diskutieren.

Dass es sich nach wie vor um ein hochaktuelles Thema handelt, zeigte die rege Beteiligung am Webtalk, der unter dem Titel: „Nachhaltige Lieferkette – Chancen und Herausforderungen in einer globalisierten Arbeitswelt“ im digitalen Format stattfand.

Moderiert wurde der Talk von Alice Gumppenberg, die – als Senior Expert Supply Chain Sustainability – vorweg wichtige Insights zum Thema gab und neben den drei Panelist:innen 320 Teilnehmer:innen mit über 40 eingereichten Fragen begrüßen konnte.

akzente hat die Takeaways der Diskutant:innen zusammengefasst:

  • Anne Göbel, Abteilungsleiterin Corporate Social Responsibility beim Handelsverband Deutschland, sprach sich für ein Lieferkettengesetz aus, äußerte jedoch auch Bedenken hinsichtlich der Umsetzbarkeit in den Unternehmen. Damit eine Sorgfaltspflicht volle Wirkung entfalten könne, bräuchte es eine europäische Regelung, denn Unternehmen sollten sowohl lokal als auch global denken.
  • Illa Brockmeyer, Public Policy Manager EU & Germany der Metro Group, sieht als Mitarbeiterin eines multinationalen Unternehmens vor allem die Herausforderung, ein komplexes Netzwerk an Lieferanten zu managen. Sie wünscht sich harmonisierte Regelungen, damit Unternehmen klare Vorgaben haben und zusammen an einer nachhaltigen Entwicklung arbeiten können.
  • Prof. Dr. Thomas Beschorner, Professor für Wirtschaftsethik und Direktor des Instituts für Wirtschaftsethik (Universität St. Gallen), positionierte sich kritisch gegenüber dem aktuellen Gesetzesentwurf. Er merkte an, dass es viel mehr ‚Lieferantengesetz‘ heißen müsse, da vor allem die 1st-Tier-Unternehmen überprüft werden würden und weniger die gesamte Lieferkette. Es fehle außerdem sowohl an Anreizen für Unternehmen, sich verantwortungsvoll zu verhalten, als auch an wirksamen rechtlichen Konsequenzen bei Missachtung. Unternehmen sollten über Regularien hinaus ihre gesellschaftliche Rolle neu justieren.

Für alle, die sich den Webtalk nachträglich anhören möchten, haben wir hier eine Aufzeichnung zur Verfügung gestellt.

Wir bedanken uns bei allen Mitwirkenden und freuen uns über das große Interesse! Wenn Sie weiterhin über kommende Webtalks informiert werden möchten, empfehlen wir Ihnen den akzente-Newsletter.

Wir haben nichts gelernt. Gar nichts. Wieder mal.

Im ersten Lockdown sprachen wir von Entschleunigung, nachhaltigen Lebensstilen und Resilienz. Kurz: Wir haben aus dem, wozu wir gezwungen worden waren, eine Tugend gemacht. Lieferketten waren zerbrochen, Flugreisen in ferne Länder unmöglich, Kurzarbeit und Homeoffice entschleunigten das Leben. Viele entdeckten ihre Umgebung, andere ihren Garten. Die Solidarität war groß. Junge Menschen kauften für Ältere ein, Gemeinschaft bekam wieder an Wert. Mit diesen Erfahrungen, da waren wir sicher, könnten wir nach der Pandemie Wirtschaft und Gesellschaft neu und besser aufbauen.

Wir verlieren an Empathie

Nun ist von all dem nicht mehr viel geblieben. Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Doch das Leben geht weiter und die Corona-bedingten Beschränkungen gehören nun halt dazu. Die Wirtschaft boomt wie noch nie und der Deutsche Aktienindex hat Rekordhöhe erreicht. War da was? Ja, die Krise hat uns die Digitalisierung beschert. Vom ersten bis zum zweiten Lockdown hat auch der Letzte kapiert, wie man mit Teams und Zoom umgeht. So können wir nun weitermachen wie vorher, sogar besser und schneller denn je. Und so sind viele von uns zum Rädchen in einer hocheffizienten Maschine geworden. Ja, wir selbst sind zu Maschinen geworden. In Kacheln gepresst begegnen wir uns zu weltumspannenden Online-Meetings, dicht getaktet, oft acht Stunden täglich. Smalltalk und Reflexion bleiben auf der Strecke, die Empathie auch. Wir erleben uns alle nur noch digital und nicht mehr als Menschen mit Fleisch und Blut. Das macht etwas mit uns.

Wir werden Sklaven der Effizienz

Wir lassen uns in teils aberwitzige Abläufe pressen und treiben die Maschine damit auch selbst zu immer höheren Touren an. Warum? Weil wir quasi erpressbar sind. Täglich lesen und hören wir von den Verlierern der Pandemie: Freunde, die noch in Kurzarbeit sind und Angst um ihren Job haben, Pflegekräfte, die sich weiter unterbezahlt abrackern und um ihre Gesundheit bangen, Hotel- und Restaurantbesitzer, die vielleicht nie mehr aufsperren können. Wer zu den Gewinnern gehört, muss deshalb demütig und dankbar sein. Die Frage nach dem Sinn der Beschleunigung ist daher mental gar nicht zuzulassen. Und sie lässt sich auch nicht mehr in der Mittagspause mit anderen diskutieren. Niemand will sich nach der Krise etwas vorwerfen lassen können, während Führungskräfte sich nun zwingend als Krisenmanager beweisen müssen. Und so treiben wir gemeinsam im Strom der digital befeuerten Effizienz, während andere in den Abgrund schauen.

Warum die Beschleunigung?

Doch warum sind die Unternehmen nun derart getrieben und holen das Letzte aus ihrer Mannschaft heraus? Nicht allein, weil jedes möglichst rasch aus der Krise herausrudern will und dabei womöglich über das Ziel auch hinausschießt. Sondern, weil wir derzeit fraglos eine der größten Umwälzungen in der Wirtschaft erleben. Jetzt kommt es darauf an, sich für eine grüne und digitale Zukunft aufzustellen. Also brauchen wir in den Unternehmen Digitalisierungs-, Strategie- und Nachhaltigkeitsprojekte. Es wäre tatsächlich unklug, just jetzt ein Wasserstoffprojekt nicht vehement weiterzuverfolgen oder die Erarbeitung einer Klimastrategie auf Eis zu legen. Der Hinweis darauf, dass man dies schon längst hätte tun sollen, ist wohlfeil. Mit welcher Hektik, ja Panik gerade aber agiert wird, stimmt bedenklich. Denn wirklich nachhaltig im Sinne von beständig und tiefgreifend ist das meist nicht.

Was ist aus den Erkenntnissen geworden?

Sehr rasch haben wir nun vieles ausgeblendet, um den Turbo hochzudrehen. Der Fokus auf Resilienz, sprich Widerstandsfähigkeit, hat wieder abgenommen. Das könnte uns aber bald auf die Füße fallen:

  • Dass die Stimmung in der deutschen Industrie so gut ist wie selten zuvor, liegt an der steigenden Auslandsnachfrage, vor allem aus Asien und dort insbesondere aus China – ein Markt, von dem man sich angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen nicht noch abhängiger machen sollte als bisher.
  • Schon bisher war der Fachkräftemangel das größte Problem der deutschen Wirtschaft. Nun werden Menschen regelrecht verheizt. Wie aber wollen Unternehmen künftig attraktive Arbeitsplätze anbieten in agilen Strukturen und innovative Nachwuchskräfte anziehen, wenn sie jetzt die Strukturen dafür vernachlässigen.
  • Dass deutsche Unternehmen bei der Gleichstellung von Frauen ebenso wie beim Thema kulturelle Vielfalt hinterherhinken und die Pandemie just hier noch zusätzlich abträglich wirkte, wird im Krisenmodus allzu rasch beiseite gewischt.
  • Die Digitalisierung wird nun als willkommenes Handwerkszeug verwendet. Doch die substanzielle Beschäftigung mit den Implikationen für unsere gesellschaftliche Entwicklung fehlt. Entsprechende Rahmenbedingungen werden der EU überlassen.
  • Aufgrund der Pandemie blühen viele Geschäftsmodelle wie Versand- und Lieferdienste, die unser aller Ansprüche an gute Arbeit zuwiderlaufen. Geld verdienen hier meist nur die Investoren und risikobereite Aktionäre.
Wir brauchen mehr Solidarität

Aus Nachhaltigkeitssicht muss man eigentlich vieles begrüßen, was derzeit passiert, weil die EU ihr Sustainable Finance-Konzept konsequent verfolgt und die Konsument:innen immer wieder klare Signale setzen. Und man muss angesichts des rasch fortschreitenden Klimawandels auch hoffen, dass diese Impulse rasch greifen und in neue, auch großindustrielle Lösungen umgesetzt werden. Doch man muss auch sehr entschieden davor warnen, Nachhaltigkeit nur als neuen Wirtschafts-Turbo zu verstehen. Denn unsere Gesellschaft braucht für eine nachhaltige Entwicklung mehr sozialen Ausgleich – in und nach der Pandemie. Dass der Pflegetarif nicht zustande kam, ist eine Bankrotterklärung. Dass die sozialen Dienste von der Corona-Krise besonders betroffen sind, ist blamabel. Und dass jene, die schon wenig haben, aufgrund steigender Mietpreise noch mehr ausgegrenzt werden, ist traurig. Vom Elend vieler Kunstschaffenden und dem Niedergang des kulturellen Lebens, das uns Freude beschert und Mensch sein lässt, ganz zu schweigen. Und gar nicht fragen mag man auch nach den vielen Beschäftigten, die einsam am Küchentisch oder mit Homeschooling mehr geleistet haben als jemals zuvor und nervlich am Ende sind.

Wenn wir nicht in der Lage sind, mit Nachhaltigkeit auch mehr Solidarität, Kultur und Empathie zu verknüpfen, wird eine nachhaltige Entwicklung scheitern – egal wie wir wirtschaftlich durch die Krise gekommen sind.


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Geduld allein bringt uns nicht weiter

Über die aktuellen Herausforderungen der Agenda 2030 sprachen wir mit Elise Zerrath, SDG-Expertin im Sustainable Development and Gender Unit bei der Wirtschaftskommission für Europa der Vereinten Nationen (UNECE) in Genf.

Welche Frage zu den SDGs wird Ihnen Ihrer Meinung nach viel zu selten gestellt, verlangt aber viel mehr Aufmerksamkeit?

„Wie schaffen wir eine nachhaltige Transformation tatsächlich?“ Es ist eine Frage, die ich viel zu selten höre, die aber dem Kern der SDGs entspricht. Also: Wie können wir unsere Lebensweise, unser Konsumverhalten, unsere Art des Wirtschaftens grundlegend verändern? Die richtigen Wörter sind bereits in aller Munde: Transformation, Wandel, Kehrtwende. Doch nicht immer sind sie Ausdruck von Mut, Veränderungsbereitschaft, Erfindergeist – von all dem, was es braucht, um tatsächliche Veränderung zu bewirken. Es sind sicherlich die schwierigsten Hausaufgaben, die uns die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung aufgetragen hat: Nachhaltigkeit nicht nur rhetorisch in unseren bestehenden Strukturen zu fordern, sondern die Strukturen selbst auf den Prüfstand zu stellen. Wir brauchen mehr dieser Fragen, die nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern tiefer ansetzen – die von dem Willen geleitet sind, echten nachhaltigen Wandel voranzutreiben.

Sie arbeiten an den Themen Sustainable Development und Gender bei der UNECE: Inwiefern hängen diese Themen zusammen?

Gleichberechtigung ist der „Game Changer“ schlechthin für nachhaltige Entwicklung. Die Stärkung von Frauen ist ein enormer Beschleuniger bei der Umsetzung aller 17 Nachhaltigkeitsziele – oder anders gesagt: Frauen sind ein entscheidender Teil der Lösung.

Elise Zerrath @ Marlène Borlant

Ein Nachhaltigkeitsziel, SDG 5, widmet sich ganz der Gleichberechtigung der Geschlechter, und ist entscheidend, um eine Reihe anderer SDGs zu erreichen. Leider klaffen Vision und Realität noch immer weit auseinander. Kein Land dieser Welt hat bisher die vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht – auch vor Deutschland liegt noch ein weiter Weg. Die Entwicklung von Frauen – und damit die Entwicklung der gesamten Gesellschaft – wird weiterhin ausgebremst von unzureichender Chancengleichheit, erschwertem Zugang zu Führungspositionen, sexualisierter Gewalt, ungleicher Verteilung von Pflege- und Hausarbeit, geringerer Entlohnung – die Liste lässt sich fortsetzen. Und eins ist dabei sicher: Geduld allein bringt uns hier nicht weiter.

Die 17 globalen Nachhaltigkeitsziele sollen bis 2030 erreicht sein. Das ist in zehn Jahren. Für wie realistisch halten Sie diesen Zielhorizont?

Eine große Hürde ist bereits jetzt bekannt: Wir wissen in vielen Fällen schlicht nicht, wo genau wir bei der Umsetzung der 17 SDGs stehen. Uns fehlt die Datengrundlage, um Fortschritte zu messen. In vielen UN- Mitgliedsstaaten ist die Erhebung von qualitativ hochwertigen und nach Geschlecht, Herkunft oder Alter auf- geschlüsselten Daten eine echte Herausforderung. Ein Beispiel: In der UNECE-Region, die 56 Staaten in Nordamerika, Europa und Zentralasien umfasst, wird derzeit erwartet, dass 23 der 169 SDG-Unterziele bis 2030 erreicht werden. Allerdings lässt sich bei 80 dieser Unterziele schlichtweg keine Aussage treffen, da die Datengrundlage fehlt. Ein wichtiges Thema wird also bleiben, die statistischen Kapazitäten von Mitgliedsstaaten zu stärken.

Welche SDGs und deren Themen sind am aussichtsreichsten, welche die herausforderndsten – und warum?

Die Covid-19-Pandemie hat das Bild stark verzerrt: Bei einigen Nachhaltigkeitszielen wurden über die letzten Jahre zaghafte Fortschritte erzielt – viele Teilerfolge hat die Pandemie allerdings zunichte gemacht. In einigen Bereichen sind die Rückschritte noch gar nicht bezifferbar: die Zunahme von häuslicher Gewalt, die Verschärfung sozialer Ungleichheiten, verpasste Bildungschancen, verlorene Arbeitsplätze. Gleichzeitig hat das Virus uns gezwungen quasi über Nacht das gewohnte Leben neu zu denken. Damit wurde auch deutlich, dass eine Transformation unserer Lebensweise möglich ist. In der Krise liegt auch eine Chance – sie schafft Raum für neue Impulse: Wie können wir Konjunkturprogramme an den SDGs ausrichten, getreu dem Motto „Building back better“? Wie können wir die Pandemie überwinden und dabei Klimaschutz fördern, Ungleichheiten reduzieren und Impulse für ein nachhaltigeres Wirtschaften geben? Wir befinden uns inmitten dieser Entscheidungsphase für eine nachhaltigere Zukunft und haben jetzt die Chance, die Umsetzung der SDGs realistischer werden zu lassen.

„Rainbow Washing“ & „Cherry Picking“: Unternehmen werden kritisiert, die SDGs primär kommunikativ und weniger transformativ einzusetzen. Für wie legitim halten Sie diese Kritik?

Wir brauchen Unternehmen, die sich zu den Nachhaltigkeitszielen bekennen – gerne auch öffentlichkeitswirksam. Wir brauchen aber auch Institutionen und kritische Konsumenten, die die Überprüfbarkeit der Nachhaltigkeit einfordern. Die SDGs drücken eine Vision von einer gerechteren, nachhaltigeren Welt aus – und machen sich damit sehr gut als rhetorisches Stilmittel. Aber mit ihnen kommt der Auftrag zur echten Veränderung. Wer sich zu den SDGs bekennt, muss gewillt sein, sich diesem Auftrag anzunehmen.

Was können Unternehmen tun, um einen glaubwürdigen und tatsächlichen Beitrag zur Umsetzung der SDGs zu leisten?

Sich genau die Anfangsfrage stellen: Wie schaffen wir als Unternehmen eine tatsächliche nachhaltige Transformation – und sich diese Frage mit dem Mut stellen, den es braucht, um Veränderungen anzustoßen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für Unternehmen, sondern auch für alle Politikebenen und jeden Einzelnen von uns. Und vielleicht ist letzteres ein guter Startpunkt: Inwieweit schaffen wir es selbst, in unserem eigenen Leben, einen glaubwürdigen und tatsächlichen Beitrag zur Umsetzung der SDGs zu leisten? Haben wir selbst den Mut zur Veränderung?


Das Interview ist Teil des alle zwei Monate erscheinenden akzente Politikmonitors. Darin verfolgen wir die Diskussionen und Veranstaltungen rund um Nachhaltigkeit in Brüssel und Berlin, greifen Impulse auf und geben Einblicke. Die neuesten Ausgaben des Politikmonitors stehen Ihnen hier zum Download bereit.

Titelbild: Wilhelm Gunkel | Unsplash

Nachhaltige Events im April 2021

Der April hält interessante Veranstaltungen rund um Nachhaltigkeit und Wirtschaft bereit. Hier finden Sie einen Überblick über die wichtigsten Termine.

2. Netzwerktreffen zum CSR-Preis der Bundesregierung | 13.04.2021

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales lädt Unternehmen aller Größen und Branchen zum Austausch zu aktuellen CSR-Themen und Entwicklungen ein.

Ausführliche Informationen finden Sie in unserer Eventankündigung.


BEST ECONOMY Forum | 20.04.2021

Das BEST ECONOMY Forum gibt Impulse für eine nachhaltige Transformation in Unternehmen. Hier steht folgender Leitspruch im Vordergrund: „Wirtschaften, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt und nicht die Maximierung von Profit und Wachstum.“ Eingeladen sind Unternehmen, die sich mit nachhaltiger Wirtschaft beschäftigen und Austausch mit Gleichgesinnten suchen. Das Event dauert insgesamt 3 Tage und wird im Online Format veranstaltet.

Zu den Tickets und weiteren Informationen geht es hier entlang.


Kongress Klimaneutrale Kommunen | 22.04.2021

Bereits zum 10. Mal findet der Kongress Klimaneutrale Kommune statt, dieses Jahr im digitalen Format. Im Fokus stehen die praktische Umsetzung und Beschleunigung der Energiewende. Diskutiert werden Themen rund um nachhaltige Mobilität, interkommunale Zusammenarbeit oder Wärmepläne. Der 2-tägige Kongress bietet Praxisforen zu Schwerpunktthemen der kommunalen Energiewende und Möglichkeiten zum Austausch.

Eine Übersicht über Programm und Tickets gibt es hier.


Webinar „Green Deal im Unternehmen“ | 22.04.2021

In diesem kostenlosen Webinar werden unter dem Motto „Green Deal im Unternehmen – So gelingt strategischer Klimaschutz!“ praxisnahe Einblicke geboten und die mitgebrachten Fragen der Zuhörer:innen diskutiert.

Zur Anmeldung geht es hier entlang.


Grünes Geld | 23.04.2021

Die Messe Grünes Geld möchte interessierte Anleger zu Themen rund um Sustainable Finance informieren und aufklären. Dieses Jahr findet die Messe erstmals digital statt.

Mehr Informationen erhalten Sie hier.


Foto: Thomas Lefebvre | Unsplash